Die versunkene Stadt Gression.
Von Max v. Mallinckrodt.

Es gibt heute noch Sonntagskinder, die in der Lage sind, allerhand zu sehen und zu hören, was andere Leute nicht sehen und hören. Aber die Alltagskinder sind beträchtlich in der Ueberzahl, obwohl jene nicht etwa wirklich nur am Sonntag geboren zu sein brauchen. Alltagskinder und Sonntagskinder sehen die Welt mit sehr verschiedenen Augen an: Die einen sachlich, logisch, kritisch und oft ein bißchen langweilig, die anderen unsachlich, unlogisch, unkritisch, ja geradezu rührend falsch, aber dafür unsagbar farbig und schön.

Die Sonntagskinder sind wenige geworden mit der Zeit, denn die Zeit ist ihnen nicht günstig. Die Menschheit wird heutzutage gewissermaßen schon von Amts wegen auf einen anderen Weg geleitet. Das erzieherische Leitmotiv unserer Tage, die Bildungsverbreiterung an Stelle der engeren Vertiefung von früher drängt die mythenbildende Kraft vertrauender Unkenntnis immer mehr zurück. Früher waren die Menschen gläubiger als heute, nicht nur im religiösen Sinne. Sie standen auch den Erscheinungen der Natur und den Spuren vergangener Geschichtsepochen nicht mit kritischem Wissen oder Halbwissen gegenüber und glaubten an die Wahrheit der Träume, die sie selbst gleich goldenen Fäden um die Erfahrungen ihrer Tage spannen, und die eigenwillig und verworren wuchsen wie die wilden Rosen.

So entstanden Sagen; oft wenig reizvolle Gebilde, oft aber auch unendlich feine und tiefe Träume der dichtenden Volksseele. Sie wurden nicht erfunden, nicht ausgeklügelt, sie wurden erlebt.

Die Sagen verschiedener Völker zeigen oft überraschend ähnliche, ja völlig gleiche Züge. Das ist nicht etwa ein Beweis für Sagenwanderung, sondern ein Zeichen, daß gleiche oder ähnliche Erscheinungen gleiche oder ähnliche Gedanken auslösten.

Unwirtliche Steinwüsten wurden allenthalben zu verfluchten einstigen Paradiesen, und ähnliche Mythen spannen sich um die Reste uralter, längst zerfallener Bauten. Den Zahn der Zeit erkennt die dichtende Volksseele nicht an, sondern sie sucht nach einem anderen Grunde der Vernichtung und findet allenthalben in der „Schuld“, in der Verachtung göttlicher und menschlicher Gebote, den Grund des Unterganges.

In allen deutschen Gauen lebt die Kunde von versunkenen Schlössern, in denen ein verschwenderisch hausender Tyrann oder eine mitleidlose Frau das Gericht des Himmels herabbeschworen haben sollen; in den Alpen sind es grüne, blühende Almen gewesen, die zu Stein und Eis erstarrten um des frevelnden Uebermutes ihrer Bewohner willen. An der See aber erzählen sich die Menschen die schwermütige Sage von Vineta, der versunkenen Stadt, die in ihrer Sünden Blüte vom Meere verschlungen wurde, und deren Glocken noch leise emporklingen aus der Tiefe. Mag sein, daß in Wirklichkeit eine Sturmflut einst eine Stadt zugrunde gerichtet hat, aber die Volksseele will nichts davon wissen und läßt sich nicht irre machen im Glauben an Schuld und Fluch.

Auch unsere Heimat hat ihr Vineta. Am Nordrande der Eifel, im Gebiete des ehemaligen Herzogtums Jülich, findet sich weit und breit die Sage von Gression, der versunkenen Stadt. Es ist keine Einöde, die ihre einstige Stelle verrät, sondern blühendes, schon in Römerzeiten besiedeltes Land, und es sind die Reste altrömischen Mauerwerks, die dortlands den träumenden Seelen späterer Tage zuflüsterten: „Hier stand einst Gression, das glückliche, große, reiche, frohe Gression, und hier versank es in die Tiefe“. Und dann begann das leise Fragen nach dem „Warum“, und die dichtende Volksseele gab Antwort und wußte zwei Gründe zu nennen, die sich seltsam ineinander verflochten, die Kunde vom historischen Untergange der Stadt und die von ihrer Verfluchung und ihrer Vernichtung durch die Sintflut.

Gressenich, Kreis Aachen - Foto: Jakob Jansen, Gressenich


Es wird erzählt, daß die Heidenstadt Gression, deren Namen der heutige Ort Gressenich unweit Düren noch bewahrt, einen Durchmesser von 3, 5, ja 7 Stunden Weges gehabt habe. Nicht wie andere Städte war Gression gebaut, sondern in losem Verbande reihte sich Gehöft an Gehöft, und dennoch war das Ganze von einer einzigen gewaltigen Mauer umschlossen. Ihre Bewohner aber, die reichen Bergbau trieben, sollen sehr kleinen Wuchses gewesen sein, Römermännchen, wie man heute dort noch sagt.

Und wann blühte jene seltsame Riesenstadt? Vor der Sintflut, meinen die einen, zur Römerzeit die anderen. Und in diese unsicheren historischen Angaben fällt ein seltsames Licht: Von den „Türken“ sei Gression belagert worden, von den „Tartaren“ nach anderen. Und diese Türken oder Tartaren seien in einer gewaltigen Schlacht am Omerbache bei Gressenich, der damals ein Strom gewesen sei, geschlagen worden. Unter einer Linde aber ruhe seitdem der gefallene Feldherr der Fremden in goldener Rüstung, in goldenem Sarge.

Klingt da nicht leise die Erinnerung an die gewaltige Schlacht auf den catalaunischen Gefilden in der heutigen Champagne an, in der Attilas Hunnenscharen Halt geboten wurde? Ist die Erinnerung an ein blutiges Gefecht bei Gressenich vielleicht in merowingischer Zeit von den Enkeln der Augenzeugen verschmolzen worden mit der älteren Kunde von jener großen welthistorischen Hunnenschlacht?

Und es wird weiter erzählt, daß die Fremden wiedergekehrt seien und keinen Stein auf dem anderen gelassen hätten in Gression. Waren das nicht rückflutende hunnische Heerhaufen, die die blühenden Siedlungen des Landes in Schutt und Asche legten? Jedenfalls scheint die Vermutung begründet, daß kriegerische Ereignisse größerer Art die dortige Gegend verheert haben, woraus die Sage vom historischen Untergang Gressions erwuchs.

Aber auch das Fluchmotiv tritt entweder mit dem historischen verflochten oder selbständig auf. Sündhaft und stolz seien Gressions Bewohner gewesen, Frevler und Sabbatschänder; der durch den Bergbau gewonnene Reichtum hatte die Herzen verhärtet. Da kam die Rache des Himmels. Nach den einen war es jene hunnische Zerstörung, nach den anderen die „Sintflut“, die alles vernichtete. Und gerade wie bei Vineta erzählt man, daß in der Weihnachtsnacht das leise Läuten der Glocken von Gression wieder zu hören sei; nur einmal im Jahre, in der Nacht der Gnade, dürfen die schwermütigen Klänge wieder um die alte Stätte schweben.

Aber nicht ein jeder hört das Läuten der Tiefe. Nur der, dem ein gläubiges Herz im Busen schlägt, so kündet die Sage, und sie hat recht. Nur der vermag die Glocken von Gression noch zu hören, dem der Glaube ward, daß Ahnen mehr bedeutet als Wissen. Wer nur im Lande der Beweise leben kann, dem bleiben unendlich viele Stimmen stumm, nicht nur die Glocken von Gression.




Entnommen: Eifelkalender 1930, Seite 125-127, Herausgeber Eifelverein, Stadtarchiv Düren ZB 30, 5, 1930




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