Chlodwigs Sieg über die Alemannen im Jahr 496

Ein Zülpicher Ereignis von nationaler und europäischer Tragweite

Von Dr. Reinhold Weitz


Der 18. Oktober 1911 war für Zülpich ein festlicher Tag. Unter den Klängen einer Militärkapelle, den tausendfachen Hochrufen der Bevölkerung und im Fahnenschmuck der Stadt stattete der deutsche Kaiser Wilhelm II. Der Peterskirche einen Besuch ab. Vor den Gedenktafeln in der Krypta verharrte er bei den Worten der lateinischen Inschrift „... CLODOVEUS DE GERMANIS VICTOR ...“ (Chlodwig, der Sieger über die Germanen) und meinte unvermittelt zu seiner Umgebung: „Nun, inzwischen haben sich die Deutschen ja doch wieder besonnen.“

Die scheinbar belanglose Randbemerkung des preußisch-deutschen Monarchen greift ein fernes geschichtliches Ereignis auf, das seine Wirkung über eineinhalb Jahrtausende hinweg behalten hat - in Kirche und Kunst, in Politik und Propaganda. Die Rede ist vom Frankenkönig Chlodwig und seinem Sieg über die Alemannen, der wohl 496 bei Zülpich stattgefunden hat, wenn man der Hauptquelle, dem Geschichtsschreiber Gregor von Tours, folgt.

Das strittige Faktum stellt sich dann wie folgt dar: Mit dem Ende der römischen Herrschaft erlangten die rheinischen Franken, eine Gruppierung mehrerer germanischer Kleinstämme, die politische Selbständigkeit. Unter ihnen geht noch vor Ausgang des 5. Jh. die Führung an die salfränkischen Merowinger über, deren König Chlodwig (482-511 n.Ch.) sich schrittweise alle fränkischen Teilkönigreiche sowie die alemannischen und westgotischen Herrschaftsgebiete von der Donau über den Rhein bis zu den Pyrenäen unterwirft. In den Kämpfen gegen die Alemannen ruft der König auf Bitten Chrodichilds (Klotildes), seiner katholischen Frau, den Christengott um Hilfe an und gelobt im Fall eines Sieges die Taufe. Die Franken behalten die Oberhand und Chlodwig wird am Weihnachtsfest 499 (?) mit vielen Männern seines Stammes in Reims durch Bischof Remigius getauft. Die Grundlage für diese Vorgangsbeschreibung ist das 30. Kapitel im zweiten Buch der Historia Francorum des oben genannten Chronisten, wonach der Frankenkönig „anno 15 sui regni“ (im 15. Jahr seiner Regierung) das Bekehrungserlebnis gehabt habe. Im Kapitel 37 heißt es dann weiter in deutscher Übersetzung: „Als die Goten schließlich (gemeint ist die Schlacht bei Vouillé 507, d.V.) nach ihrer Art den Rücken kehrten, gewann König Chlodwig mit Gottes Beistand den Sieg. Der Sohn Sigibert des Hinkenden, Chloderich, hatte ihm dabei geholfen. Dieser Sigibert, der bei ZÜLPICH (Heraushebung durch d.V.) gegen die Alemannen mitgefochten hatte, wurde damals am Knie getroffen und hinkte seitdem.“

Die naheliegende Folgerung, es handle sich bei dem Alemannensieg und dem durch göttlichen Beistand gewonnenen Kampf um die Schlacht bei Zülpich, bleibt nicht zweifelsfrei. Sicher ist aber, daß in Zülpich zu dieser Zeit ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt durch ein Römerkastell gesichert war. Die Straßen von Köln nach Reims und nach Trier gabelten sich hier. Es erscheint also durchaus möglich, daß sich Chlodwig, von Soissons kommend, in Zülpich mit dem ripuarischen Teilkönig Sigibert aus Köln traf, um den Vormarsch der Alemannen aus Süden aufzuhalten.

Unabhängig von dem in den Einzelheiten umstrittenen Vorgang von 496 kann seine Tragweite nicht hoch genug eingeschätzt werden: Ein fränkisches Großreich wird aufgebaut, das durch den Übergang zum römisch-katholischen Christentum erstmals eine Symbiose zwischen den einheimischen Galloromanen und den germanischen Eroberern schafft. Es kann damit im Unterschied zu den anderen, konfessionell abgespaltenen arianischen Germanenreichen eine dauerhafte Herrschaft begründen. Eine mögliche ostgotisch - byzantinische Prägung Mittel- und Westeuropas wird verhindert. Die fränkische Geschichte um 500 wird allgemein als die Geburtsstunde des mittelalterlich-christlichen Abendlandes angesehen.


Schlachtfeld von 496 nach der Tranchot-Karte 1808

Die Gestalt des ersten fränkischen Großkönigs wie die Örtlichkeit Tolbiacum / Zülpich haben in der Neuzeit - ob zu Recht, sei dahingestellt - bedeutende Spuren hinterlassen und sind durch ihre Wirkung zu geschichtsmächtigen Fakten geworden. Bei der Entwicklung des westfränkischen Reiches zum französischen Nationalstaat wird Chlodwig seit dem hohen Mittelalter zur sakralen Gründerfigur stilisiert. Ludwig (Louis), aus Chlodwig abgeleitet, wird der wichtigste Namengeber der französischen Monarchen. Reims, der Taufort Chlodwigs und die Stadt des heiligen Bischofs Remigius, wird ein Zentralort des Königtums. Hier bildet sich bis zum ausgehenden 12. Jh. der Königsmythos aus. Weihe und Taufe, Krönung und Salbung werden sakral gebündelt und legen den Grund für den Glauben an die übermenschliche, wunderheilende Kraft des französischen Königs als „allerchristlichster König“. Nach der Legende fehlt bei Chlodwigs Taufakt das Chrysam. Da erscheint ein Engel - nach anderer Version eine weiße Taube - mit einer Salbflasche. Die Kröten im Wappenschild des Frankenkönigs werden zu Lilien, und das Sakrament kann vollzogen werden. Das Gläschen wird als heilige Ampulle bis zur Revolution bei den französischen Krönungen benutzt. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, daß sich im Hochmittelalter in Frankreich Zentren einer Königsverehrung herausbilden, die den Monarchen fast in den Rang eines Heiligen erheben und somit das Mirakulöse mit dem Politischen vermischen.

In den volkssprachlichen Universalchroniken des 15./16. Jh. - gleich aus welchem Sprachraum - erscheint Chlodwig als Sieger über die „Teutschen“. Franken werden mit Franzosen und Alemannen mit Deutschen gleichgesetzt. In der Nürnberger Chronik des Hartmann Schedel von 1493 ist „Chlodoveus der erst christenlich konig in frankreich“ und er führt den Krieg „wider die teutschen“, und die Conica van der hilliger Stat Coellen von 1499 spricht sogar von einer Tributzahlung der „duytschen“ an die „Fratzoischen Konygen“, während für die Frantzösische Chronica des Nicolas Gilles aus Basel 1572 „Clovis bei Tolbiac in einer Schlacht wider die „Teutschen gewesen“ ist. Mit dem Vordringen Frankreichs nach Norden und Osten an den Rhein beginnt im folgenden Jahrhundert dann das Chlodwigbild zur politisch-ideologischen Waffe zu werden. Während in der Innsbrucker Bronzestatue für das Grabmal Kaiser Maximilians Chlodwig noch als Wegbereiter des mittelalterlichen Rittertums gesehen werden muß und die rheinisch-westfälischen Chroniken bis ins 17. Jh. in den Alemannen und Franken im Sinne des Reichsförderalismus die Bevölkerungen von landschaftlich geprägten Territorien sehen, gibt Chlodwig für den französischen Staat des Absolutismus bereits eine wichtige außenpolitische Legetimation ab.

Die politisch-propagandistische Instrumentalisierung des Frankenkönigs kann sich mit der Französischen Revolution noch ungehemmter entfalten. Die Ideen von 1789 lösen nicht nur eine universale Menschenrechtsbewegung aus, sondern begründen auch das nationalstaatliche Denken und den Nationalismus. Chlodwig - und Neufrankenmythos spielen folglich eine große Rolle in dem Bemühen um die Anbindung des linken Rheinufers an das neue Frankreich. 1794 sind die alten Mächte endgültig über den Rhein zurückgedrängt. Bevor die vier rheinischen Departements 1801 völkerrechtlich französisches Staatsgebiet werden, war an eine cisrhenansiche Republik gedacht worden. In publizistischen Sympathiebekundungen für das revolutionäre Frankreich heißt es 1798 aus Aachen u.a. „... In den Feldern von Tolbiac war es, wo die Stifter des Fränkischen Reiches unsere Väter über die Alemannen rächten und den Rhein wiedereroberten, der von je die Grenze Galliens gewesen war ... Chlodwig befestigte die Herrschaft der Franken in Gallien ... Ihr habt die einige und untheilbare Republik gegründet ...“ Die pathetisch - spekulative Gleichsetzung der fränkischen mit der neufränkischen Geschichte zeigt, daß die Historie zum bloßen tagespolitischen Nutzen mißbraucht wird. Die agitatorische Pseudoaktualisierung weicht bei dem Verwaltungs-und Gesellschaftsumbau der napoleonischen Jahre einer ernster zu nehmenden Argumentation. Chlodwig und Zülpich / Tolbiac gewinnen unter den Präfekten Ladoucette und Klespé einen hohen Stellenwert für die Integration der Rheinlande mit Frankreich. Der Napoleonverehrer und Aachener Bischof Berdolet stützt analog zur Neubewertung Karls des Großen örtliche Bemühungen um Chlodwig in Zülpich.

So wie Aachen durch den Karlskult eine privilegierte Stadt wird (bonne ville), kann in bescheidenem Maße auch Zülpich aus seiner Historie Nutzen ziehen. Die Bemühungen von Pfarrer und Bürgermeister, nach der Säkularisation die Peterskirche vor den zwei anderen Stadtkirchen zu erhalten, glückt mit dem Argument, hier bestehe die „König-Chlodovei-Klufft“. Der Ausruf des Bischofs Berdolets in der Krypta, hier sei die „Wiege des Christentums“ (berceau du christianisme), die Unterstützung des Kölner Gelehrten Wallraf und der Pariser Gelehrtenakademie des Institut de France führen 1811 mit zur Schenkung von Marmortafeln. Sie sollten an einem Stadttor und in der Unterkirche von St. Peter angebracht werden. In der Übersetzung lauten die Texte: „Zülpich, durch Chlodwigs Sieg ausgezeichnet, der Franken Glück und des Reiches Wiege.“ - „Hier ist, wie die Ortssage erzählt, Chlodwig, der Sieger über die Germanen, zum ersten Mal im heiligen Wasser getauft worden und hat sein Gelübde pflichtgemäß erfüllt im Jahr 496.“ Kommunale Anstrengungen von unten und die zeitgleichen kulturpolitischen Konzepte der Parteigänger Frankreichs und der Präfekturbehörden auf einer oberen Ebene wirken zusammen. Zülpich kommt in den Rang eines denkmalwürdigen Orts der rheinischen Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, an dem die Verwerfungslinien der nationalen Geschichtsbilder zusammenlaufen.


König Chlodwig mit seinen Franken. Das historisierende Bild entstand im 19. Jahrhundert.

Mit der Besitznahme der Rheinlande durch Preußen 1814 bricht die lokale neufränkische Tradition ab. Die Befreiungskriege mit ihrem aufkommenden Nationalismus lassen im deutschen politischen Denken keinen Raum für weltanschauliche Kultfiguren wie Chlodwig. Erst die Zeit nach der Reichsgründung 1871 und die wilhelminische Epoche der Jahrhundertwende greifen bei einem gestärkten Selbstwertgefühl auf die Vorgänge um 496 zurück. Vor dem Hintergrund der siegreich bestandenen „Erbfeindschaft“ zu Frankreich wird Chlodwig in den Schulbüchern und populären Geschichtswerken vielfach negativ umgewertet. Er wird zum Gewaltmenschen. Seine Bekehrung erfolgt aus Machttrieb und Kalkül, nicht aus religiöser Überzeugung (anders jedoch im katholischen Schrifttum). Die treulosen Romanen werden den treudeutschen Alemannen gegenübergestellt. Nationalistische Klischees herrschen vor und werden im völkischen Denken des Dritten Reichs massenhaft verbreitet.

Es gibt vor dem Ersten Weltkrieg eine auffällige Ortstradition in Zülpich, die aus einem lokalpatriotischen Heimatgefühl heraus romantisierende Chlodwigbilder zeichnet. Die Stadt schlägt aus ihrer Geschichte ein mehrfaches Kapital: Politik und Verwaltung fördern historische Projekte aus der fränkischen Vergangenheit, Vereinsgründungen berufen sich auf die berühmte Ortsgeschichte, Beziehungen zu wissenschaftlichen Institutionen werden geknüpft, eine volkstümliche örtliche Literatur findet eine große Leserschaft. Selbst die Zülpicher Jahrtausendfeier der Rheinlande 1925 beschwört die Chlodwiglegende als Sinnbild der Einigkeit und des Vertrauens in die Heimat.

Im Nachbarland Frankreich bleibt im 19. und 20. Jh. die positive Chlodwigtradition ungebrochen. Mit dem Bau der Pariser Kirche Ste. Clotilde durch den Architekten Gau - nicht zufällig stammt er aus Köln - zu Beginn des vorigen Jahrhunderts setzt die französische Neogotik ein. Die Namensgebung ist zugleich ein politisches Programm, da der Sakralbau der Königin gewidmet ist, die als Mitbegründerin des katholischen Frankreichs angesehen wird. Im zweiten Empire und er nachfolgenden Republik halten monumentale bildliche Darstellungen in Pantheon und in Versailles die Chlodwigtradition wach und belegen damit deren ideologischen Stellenwert für Staat und Nation. Beim Stadtausbau von Paris werden 1868 eine kilometerlange Straße im 13. Arrondissement und eine Brücke nach Tolbiac benannt, später kommen eine Metro-Station und die neue Nationalbibliothek hinzu. Tolbiac ist aber nicht nur zu einem weitbekannten topographischen Begriff in Frankreich geworden. Der heutige Leser des französischen Bestsellerromans von Jean Rouard „Die Felder der Ehre“ wird an das sog. Wunder der Marneschlacht des Ersten Weltkriegs mit dem Hinweis erinnert, daß „sich am Himmel über Tolbiac wirklich Chlodwigs Kreuz abzeichnet“.

Zeitpunkt und Ort von Chlodwigs Alemannenschlacht werden nie in allen Punkten geklärt werden können. Die geschichtlich - politische Wirkung dieser Ereignisse kann jedoch nicht in Zweifel gezogen werden. Das Jahr 496 hat Geschichte gemacht - lokale, nationale und europäische. Unser Überblick hat nur einige Schlaglichter auf ein historisches Datum werfen können, dessen Rezeption von der Ästhetik bis in die politische Propaganda der deutsch-französischen Nationalismen reicht.

1996 werden es 1500 Jahre, die zwischen der Zülpicher Schlacht und unserer zeit liegen. Es ist eine historische Pflicht, das Jubiläumsjahr in angemessener Form zu würdigen. Auf Initiative von Professor Dr. D. Geuenich hat sich ein Arbeitskreis von privaten und öffentlichen Trägern gebildet, der seit 1993 das Projekt vorbereitet, fachlich ausgewiesen ist und viel ehrenamtliche Arbeit hineinsteckt. Die Vorleistungen sind durch die finanzielle Förderung seitens der Nordrhein-Westfalen-Stiftung auch bereits anerkannt worden. Die Kernveranstaltung wird ein wissenschaftliches Kolloquium vom 26.-28. September 1996 in Zülpich sein, bei dm Historiker, Archäologen, Sprachwissenschaftler, Rechts- und Religionsgeschichtler über den Forschungsstand zur Herkunft, Ethnogenese, Verfassung und Kultur der Franken und Alemannen in der Zeit um 500 diskutieren werden. Eine allgemein lesbare und reich bebilderte Veröffentlichung wird das Ereignis von 496 und seine Wirkungsgeschichte in vielen Einzelbeiträgen darstellen. Die Publikation erscheint im Sommer 1996 und dient zugleich als Katalog für eine Ausstellung, deren Exponate von den Autoren vorgeschlagen werden. In den Monaten September und Oktober 1996 sind im umgestalteten Zülpicher Probsteimuseum, dem Römerbad und der Krypta von St. Peter etwa 100 Ausstellungstücke zu sehen. Ein kulturelles Rahmenprogramm soll ein breites Publikumsinteresse in Zülpich und weit darüber hinaus wecken. Dazu zählen ein Geschichtstag unter dem Motte „Heimat bewahren“, eine historische Exkursion, Vorträge und Konzertveranstaltungen, eine geistliche Woche und die Hundertjahrfeier des Zülpicher Sportvereins. Die Schirmherrschaft über die Veranstaltungen im Jubiläumsjahr hat der Erzbischof von Köln, Kardinal Meisner, übernommen.


Nemmenicher Reiter - fränkische Bronze - (Museum Zülpich)

Das Datum der „Schlacht bei Zülpich“ wird über die erwähnten Veranstaltungen hinaus im In- und Ausland zu weiteren Aktivitäten führen. In Reims findet vom 19.-25. September 1996 mit Beteiligung der Sorbonne unter dem Titel „XVe centenaire du bapt´`eme de Clovis“ ein zusätzliches wissenschaftliches Symposium statt. Für 1996 bereiten Archäologen in Mannheim eine Franken-Ausstellung vor, und im Juni 1997 wird in Stuttgart die international organisierte Wanderausstellung „Die Alemannen und ihre Nachbarn“ beginnen.


Anmerkungen

Der Verfasser stützt sich bei seinen Ausführungen neben eigenen Untersuchungen auf Vorergebnisse des Zülpicher Arbeitskreises und ist besonders Herrn Prof. Geuenich, Frau J. Vianden und Herrn Dr. Kramp für spezielle Mitteilungen dankbar.

Aus: Kreis Euskirchen, Jahrbuch 1996

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